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RS Nr. 16/2025: Jugendhilfe für ausländische Flüchtlinge

26.05.2025 LJA

Kategorie: Rundschreiben für Jugendämter

Schlagwort: Flucht

An die Jugendämter in Westfalen-Lippe

Hinweise aus dem Fachgespräch des MKJFGFI

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit diesem Rundschreiben möchten wir Sie über fachliche und rechtliche Entwicklungen im Themenbereich ausländische Minderjährige informieren. Hintergrund des Rundschreibens sind Fragestellungen, die im „Fachgespräch UMA“, das vom MKJFGFI organisiert wird, aufgetreten sind. Anlässlich eines Nachfolgetermins mit den beiden Landesjugendämtern wurden diese gebeten, die Fragestellungen zu bündeln und die Jugendämter über die Ergebnisse zu den folgenden Themen zu informieren:

  1. Dienstanweisung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Vertretung von Minderjährigen in Asylverfahren – Folgen für begleitete minderjährige Geflüchtete
  2. Prüfung von Identitätsdokumenten im Altersfeststellungsverfahren gem. § 42f SGB VIII
  3. Vorgehen bei Volljährigkeit / Entlassung in die LEA NRW
  4. Gesetzliche Krankenversicherung bei Inobhutnahme und stationärer Unterbringung

1. Dienstanweisung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Vertretung von Minderjährigen in Asylverfahren – Folgen für begleitete minderjährige Geflüchtete

Die Dienstanweisung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 12.06.2024 zur Asylantragstellung und Vertretung von Minderjährigen hat zu etlichen Fragen in der Praxis geführt. Aufgrund dieser Dienstanweisung sieht das BAMF nunmehr die Verfahrensvertretung auch durch erziehungsberechtigte Personen als zulässig an. Bis zur Änderung war die Durchführung abhängig davon, dass die Minderjährigen in den Verfahren durch eine:n Personensorgeberechtigte:n vertreten wurden. Dies waren zumeist die gerichtlich bestellten Vormünder:innen.

Diese Dienstanweisung hat in der Praxis zu Fragen zur Wirksamkeit von Erziehungsberechtigungen geführt. Ebenso trat die Frage auf, ob eine geeignete Vertretung durch die Erziehungsberechtigten in dem komplexen und rechtlich anspruchsvollen Asylverfahren überhaupt gewährleistet ist. Die Erziehungsberechtigten sind häufig Angehörige der eingereisten Minderjährigen und nicht selten gleichzeitig oder kurz zuvor eingereist. Sie sind oftmals ohne ausreichende eigene Kenntnisse über Verfahrensabläufe, der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig und die Einhaltung von Terminen bzw. Fristen ist erschwert, weil die Erreichbarkeit dieser Personen nicht immer gewährleistet ist.

Von dieser Veränderung sind daher vor allem minderjährige Geflüchtete betroffen, die als begleitete Geflüchtete nicht durch das Jugendamt vorläufig in Obhut genommen werden, sondern mit ihren Erziehungsberechtigten in den Flüchtlingseinrichtungen verbleiben. Sie durchlaufen nicht das Verteilverfahren über die Landesstelle NRW, sondern unterliegen der ausländerrechtlichen Verteilung.

In diesen Fällen stellt sich oftmals die Frage, durch wen eine Prüfung der Erziehungsberechtigung erfolgt. Hierzu sollte eine Zusammenarbeit in der örtlichen Praxis zwischen den beteiligten Stellen geklärt sein, so dass bei zweifelhaften Erziehungsberechtigungen das Jugendamt hinzugezogen wird.

Zu den Anforderungen, die an wirksame Erziehungsberechtigungen zu stellen sind, kann bspw. die Checkliste des Deutschen Instituts für Jugendhilfe herangezogen werden (https://dijuf.de/fileadmin/Redaktion/Handlungsfelder/Junge_Gefluechtete/DIJuF-Checkliste_Nachweis_Erziehungsberechtigung_begleitete_UMA_JAmt_2024_H._9.pdf). Diese Prüfung kann auch ohne eine vorläufige Inobhutnahme der Minderjährigen erfolgen. Sofern die Erziehungsberechtigung zweifelhaft ist, muss allerdings zum Schutz des (potentiell unbegleiteten) Minderjährigen eine vorläufige Inobhutnahme verfügt werden. Sie ist zu beenden, wenn sich die Erziehungsberechtigung bestätigt (vgl. § 42a Abs. 6 SGB VIII). Die Prüfung von Erziehungsberechtigungen (= Sorgerechtsvollmachten) verlangt im Übrigen nicht selten auch eine Übersetzung, ferner Kontakt mit den sorgeberechtigten Eltern und Prüfung von deren Erreichbarkeit oder eine Klärung der verwandtschaftlichen Beziehungen. Nur so kann auch Gefahren durch Kinderhandel, Zwangsprostitution oder andere Gefährdungen des Kindeswohls begegnet werden.

In nicht wenigen Fällen haben begleitete Minderjährige keine Anbindung an die örtlichen Jugendämter, so dass eine Beratung oder Klärung eines jugendhilferechtlichen Bedarfs oftmals nicht stattfindet. Die NRW-Landesjugendämter raten daher, die Bestellung einer:s Vormünd:in beim Familiengericht anzuregen, da hierdurch der Zugang zu Leistungen der Jugendhilfe deutlich verbessert wird. Da es sich um begleitete minderjährige Geflüchtete handelt, greift insoweit die allg. Zuständigkeitsregelung des § 87c Abs. 3 SGB VIII, so dass das Jugendamt am gewöhnlichen Aufenthaltsort der Minderjährigen zuständig für die Anregung und Führung der Vormundschaft ist. Diese Zuständigkeit nach § 87c SGB VIII ist dynamisch, so dass bei einem Wechsel des Aufenthaltsorts eine Vormundschaft an das Jugendamt abgegeben werden kann. Ob die erziehungsberechtigte Person selbst, das Jugendamt oder eine sonstige Person für die Führung der Vormundschaft in Frage kommt, wird durch das Familiengericht geprüft.

2. Prüfung von Identitätsdokumenten im Altersfeststellungsverfahren gem. § 42f SGB VIII

In der Jugendhilfepraxis haben sich nach der Einführung der Regelung zur Altersfeststellung in § 42f SGB VIII in vielfacher Hinsicht Fragestellungen ergeben. Unter anderem ist das Jugendamt verpflichtet, die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen.

Die Jugendämter haben keine eigenen technischen und fachlichen Möglichkeiten, Ausweisdokumente zuverlässig auf deren Echtheit zu prüfen bzw. die Richtigkeit des Inhalts festzustellen. Die Überprüfung eines Ausweisdokuments kann bei Zweifeln an der Echtheit im Wege eines Urkundenüberprüfungsverfahrens oder durch ein ausländisches Konsulat erfolgen. Es empfiehlt sich auch, hierzu den Kontakt mit der Ausländerbehörde zu suchen. In Asylverfahren kann ggf. auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Klärung herbeiführen.

Ferner sind Entscheidungen des Jugendamtes zum Alter einer Person für andere Behörden nicht bindend. In gleicher Weise sind die Feststellungen anderer Behörden über das Alter für das Jugendamt nicht bindend. Nicht selten finden sich daher bezüglich der Altersangabe in behördlichen Dokumenten unterschiedliche Feststellungen verschiedener inländischer Behörden. Es gibt aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit oftmals große Unterschiede in der Bewertung und Anerkennung von ausländischen Dokumenten.

Die Landesjugendämter möchten aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, die sich vor allem durch uneinheitliche Altersfeststellungen von Behörden für die jungen geflüchteten Menschen ergeben, auf die Vorgaben des Kinderschutzes und der größtmöglichen Sicherung der Interessen dieser besonders gefährdeten Gruppe hinweisen, die sich nur durch eine bessere Abstimmung der befassten inländischen Behörden erreichen lässt. Insbesondere soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Jugendämter aufgrund der Regelung des § 42f SGB VIII die Altersfeststellung unter Beachtung der Rechte der Betroffenen selbst zu treffen haben und nicht den Feststellungen anderer Behörden folgen müssen dürfen.

Umfangreichere Hinweise zum Altersfeststellungsverfahren ergeben sich aus der Arbeitshilfe von LVR und LWL: Arbeitshilfe: Durchführung von behördlichen Altersfeststellungsverfahren gemäß § 42f SGB VIII (www.lwl-landesjugendamt.de).

3. Vorgehen bei Volljährigkeit - Entlassung in die LEA NRW

Sofern ein Jugendamt im Rahmen der Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII die Volljährigkeit feststellt, ist die vorläufige Inobhutnahme nicht auszusprechen oder, sofern sie bereits ausgesprochen wurde, zu beenden. In diesen Fällen sollte in Abstimmung mit der Ausländerbehörde eine Überführung in das Erwachsenensystem stattfinden. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass die Person zur Landeserstaufnahmeeinrichtung NRW (LEA) in Bochum reisen muss. Um sicherzustellen, dass die Person dort als volljährige Person aufgenommen wird, ist eine Weitergabe der Information über das durchgeführte Altersfeststellungsverfahren wichtig. Es wird daher empfohlen, die Feststellung der Volljährigkeit der Landesstelle NRW mitzuteilen, so dass dies im Datensatz des (ehemaligen) UMA gespeichert werden kann. Diese Vorgehensweise ist allerdings nur möglich, wenn die Person zuvor vorläufig in Obhut genommen und der Landestelle NRW als UMA gemeldet wurde. Erfolgt keine Meldung an die Landesstelle, weil beispielsweise die Volljährigkeit im Erstgespräch festgestellt wird, kann und darf die Landesstelle zu der Person keine Daten speichern. Eine Erfassung der geänderten Daten ist allenfalls über eine Mitteilung des Jugendamtes an die Ausländerbehörde und einen Eintrag im AZR möglich.

Im weiteren Verlauf kann es erforderlich werden, dass der Bescheid, mit dem die (vorläufige) Inobhutnahme beendet und die Volljährigkeit festgestellt wird, an das Jugendamt Bochum oder die LEA übersendet wird. Die LEA Bochum wird das in dem Bescheid vom Jugendamt festgestellte Geburtsdatum in der Regel übernehmen. Mit dieser Vorgehensweise kann mitunter vermieden werden, dass mehrfache Altersfeststellungsverfahren durchgeführt werden. In der Phase der vorläufigen Inobhutnahme ist es rechtlich möglich, dass mehrere Altersfeststellungsverfahren durchgeführt werden und dass diese zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dies ergibt sich aus der Zuständigkeitsregelung in § 88a Abs. 1 SGB VIII, wonach stets das Jugendamt am Ort des tatsächlichen Aufenthalts zuständig ist. Da es sich um eine bundesgesetzliche Vorgabe handelt, ist eine andere Vorgehensweise in NRW nicht umsetzbar.

Nach der Inobhutnahme durch das Zuweisungsjugendamt ist ausschließlich dieses Jugendamt für die Altersfeststellung zuständig. Eine abweichende Altersfeststellung durch ein anderes Jugendamt ist rechtlich nicht möglich.

4. Gesetzliche Krankenversicherung bei Inobhutnahme und stationärer Unterbringung

Die Kommunen in NRW verwenden bei den Krankenversicherungen teilweise eine Gesundheitskarte in Zusammenarbeit mit den gesetzlichen Krankenversicherungen, teilweise selbst ausgestellte Behandlungsscheine.

Letzteres kann u. U. im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme sinnvoll sein, wenn und solange ein Verbleib eine:r unbegleiteten ausländischen Minderjährigen noch offen ist. Sobald der gewöhnliche Aufenthalt feststeht, erscheint nach den Erfahrungen aus der Fachpraxis die Anmeldung zur Krankenversicherung verbunden mit dem Ausstellen einer Gesundheitskarte als der sinnvollere Weg, da hierdurch der Zugang zur Krankenbehandlung nicht erschwert wird. Das Vorlegen von Behandlungsscheinen führt in vielen Arztpraxen zu Problemen, da teilweise die irrige Vorstellung besteht, es gelte ein anderer Leistungsumfang als bei gesetzlich Versicherten. Dies basiert darauf, dass angenommen wird, es handele sich um einen ähnlichen Leistungsumfang wie bei AsylbLG-Bezieher:innen (nur Akut- und Schmerzbehandlung). Zudem ist das Einlesen der Behandlungsscheine im Gegensatz zur Gesundheitskarte nicht möglich oder das ärztliche Personal lehnt aufgrund des Abrechnungsaufwands die Behandlung ab. Für die vulnerable Personengruppe der UMA bedeutet dies unnötige Verunsicherung und Diskriminierung. Einige Fachkräfte berichten, dass die Minderjährigen zum Teil Arztbesuche aufgrund dessen nicht alleine bewältigen können geschweige denn in der Lage sind, die aufwändigen Gespräche in den Arztpraxen zu führen.

Die Kosten, die gem. § 264 Abs. 7 SGB V entstehen, sind erstattungsfähig über § 89d SGB VIII. Es handelt sich hierbei nicht um gem. § 109 SGB X ausgeschlossene Verwaltungskosten, sondern, spezialgesetzlich gegenüber dem SGB X im SGB V geregelt, um Kosten, die im Auftragsverhältnis der Sozialleistungsträger entstehen, also nicht eigene Verwaltungskosten des Jugendamtes, die über die allg. Regelung des § 109 SGB X von einer Erstattung grundsätzlich ausgeschlossen wären.

Mit freundlichen Grüßen
Der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe

Im Auftrag
gez. Antje Fasse